Unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu einer kleineren oder größeren Gemeinschaft ist eine Konstante der Menschheitsgeschichte. Der Kapitalismus und mit ihm die Entstehung des Populismus in der Politik, hatten zwar – vor allem im Westen – die Tendenz, den Individualismus zu betonen, die Individuen zu vereinzeln und an den Egoismus der Einzelnen zu appellieren, aber das Grundbedürfnis, für eine gemeinsame Sache einzutreten oder sogar in einer Gemeinschaft zu leben, die über die Kernfamilie hinausgeht, hat überlebt.

Während die spaltende Wirkung des Egoismus bekannt ist, muss Individualismus kein Hindernis sein, sich anderen anzuschließen. Individualismus führt vielmehr dazu, dass wir bewusster wählen, in welche Gesellschaft wir uns begeben. Statt einfach in eine Gemeinschaft hineingeboren zu werden, suchen und bilden wir in der Nachmoderne unsere Gemeinschaften gemäß unserer Visionen und Wünsche.

Zusammenschlüsse formieren sich und lösen sich wieder auf, so, dass die Gemeinschaft nicht auf Gedeih und Verderb lebenslänglich aneinander gebunden ist. Sekten sind vielleicht Reste dieser Zwangsgemeinschaften, die durch die Tendenz, sich abzuschließen, meist einen autoritären Charakter bekommen. Freiwillige Zusammenschlüsse können sich hingegen soziokratischer formieren und organisieren und dadurch zu einem Modell für eine freiere, weniger hierarchisch organisierte Gesellschaft werden. Soziokratisches Handeln kann in Vereinen, Verbänden und gelebten sozialen Netzwerken (gemeint sind nicht Facebook und Co) gelernt werden und zur Gewohnheit werden.

Vereine, Verbände und soziale Netzwerke sind unabhängig vom Staatsapparat und oft auch von wirtschaftlichen Gewinninteressen. Die Konzeption der Zivilgesellschaft als einer vermittelnden Sphäre zwischen dem Staat und den einzelnen Bürgern geht auf Montesquieu zurück. Nach diesem Konzept kann die Zivilgesellschaft verhindern, dass die herrschenden Klassen (heute: internationale Konzerne und ihre Lobbys) despotisch regieren. Der Raum, in dem sich öffentliche Macht entfalten kann, muss jedoch auch in einer offenen Gesellschaft durch politisches Handeln immer wieder neu erkämpft werden.

Die Philosophin Hannah Arendt beschreibt dieses gemeinsame Handeln als zweite Geburt. Wir werden zwar, so Arendt, in eine Welt hineingeboren, die existiert, bevor wir geboren wurden. Doch sobald wir uns unserer Existenz bewusst werden, schalten wir uns sprechend und handelnd in das Geschehen ein. Mit ihrem Begriff Natalität macht Hannah Arendt darauf aufmerksam, dass die einzigartige Perspektive des im gemeinsamen Handeln zu seiner zweiten Geburt erwachenden Individuums, etwas radikal Neues birgt, eine Möglichkeit des Handelns, die vorher nicht existierte. Diese zweite Geburt bestätigt durch gemeinsames, sinnstiftendes Handeln die nackte Tatsache des Geboren-Werdens (griechisch: Zoé) und übernimmt Verantwortung dafür.

Macht selbst kann ihrem wahren Sinne nach niemals von einem Menschen allein besessen werden, Macht tritt gleichsam auf mysteriöse Weise immer dann in Erscheinung, wenn Menschen gemeinsam handeln und sie verschwindet in nicht weniger mysteriöser Weise, sobald ein Mensch ganz bei sich selbst ist. (H. Arendt) 1

1 Hannah Arendt, Über das Wesen des Totalitarismus, in: Politik und Verantwortung. Zur Aktualität von Hannah Arendt, Offizin, 2004, S. 26.