Von den Graswurzeln lernen richtet den Blick auf engagierte, basisdemokratische Netzwerke, die zeigen, dass wirklich nachhaltige Veränderungen im Bereich der Ernährungssouveränität fast immer von zivilgesellschaftlichen Akteuren – Vereinen, Netzwerken, unabhängigen NGOs und engagierten Einzelnen – angestoßen werden, während bürokratische Verordnungen und Regelungen oft schwerfällig hinterherhinken. Ein Beispiel dafür ist die von der industriellen Saatgutlobby vorangetriebene Regulierung des Saatgutverkehrs.
Das Menschenrecht, Saatgut weiterzugeben und klimaresistente, lokal angepasste sowie traditionelle Sorten zu bewahren, gerät weltweit immer mehr unter Druck. Strenge Saatgutregulierungen verlangen oft, dass Sorten bestimmte Kriterien erfüllen müssen, um zugelassen und kommerziell verkauft werden zu dürfen. Eine Sorte muss unterscheidbar, einheitlich und beständig sein. Außerdem dürfen nur Sorten verkauft werden, die in nationalen oder EU Sortenlisten eingetragen sind. Alte, regionale oder samenfeste Sorten fallen oft durch das Raster dieser Kriterien, da sie oft nicht einheitlich genug sind. Sie dürfen nicht verkauft werden, auch wenn sie ökologisch wertvoll sind. Dadurch sterben viele Sorten aus, genetische Vielfalt geht verloren.
Mit der raschen Deregulierung neuer Gentechnologien gewinnen darüber hinaus globale Saatgutkonzerne zunehmend die Kontrolle über den Markt. Diese Entwicklung vertieft die Abhängigkeit der Bäuerinnen und Bauern von patentiertem Saatgut, das mit strengen Lizenzbedingungen, Lizenzgebühren und eingeschränkter Selbstbestimmung einhergeht.
Europa bewegt sich mit den anhaltenden Debatten über die Deregulierung der neuen Gentechnik in eine ähnliche Richtung. Eine große Sorge ist, dass eine solche Deregulierung zu einem Anstieg neuer Patente führen könnte. Dies ist nach wie vor ein höchst umstrittenes Thema, das noch nicht geklärt ist. Gleichzeitig wird auch in der EU Saatgutmarkt immer strenger reguliert.
Doch der Reflex, wegen dieser EU-Regulierungswut rechte Parteien zu wählen, geht genau in die falsche Richtung. Denn gerade diese Parteien sind besonders empfänglich für die Einflüsterungen der Pestizid- und GMO Saatgutlobby. Sie vertreten die Interessen der industriellen Landwirtschaft und grenzen kritische zivilgesellschaftliche Bewegungen als ‚Störfaktor‘ aus.
Gerade unter dem Vorwand, ‚unnötige Bürokratie‘ abbauen zu wollen, werden in der EU derzeit Vorschriften gelockert oder abgeschafft, die uns vor der übermäßigen Gier der Konzerne schützen sollen. Es geht um Regelungen, die für saubere Luft und gesundes Essen sorgen, die Umwelt schützen, faire und sichere Arbeitsbedingungen garantieren sowie Diskriminierung bekämpfen sollen.
Mehrere Gesetzesvorschläge wurden bereits verabschiedet, ohne dass die Europäische Kommission zuvor eine Folgenabschätzung vorgelegt hat, obwohl diese für eine fundierte Entscheidungsfindung unerlässlich ist. Die zusätzliche Anwendung des sogenannten Eilverfahrens verschärft die Lage weiter, da eine gründliche demokratische Debatte im Europäischen Parlament dann nahezu unmöglich wird.
Außerdem spielen rechte Parteien eine zentrale Rolle dabei, zivilgesellschaftliche Bewegungen unter Druck zu setzen. Sie versuchen, engagierte Gruppen, Vereine und NGOs zu delegitimieren, ihnen Förderungen zu entziehen oder sie öffentlich zu diskreditieren. Gerade im Bereich Landwirtschaft, Biodiversität, Nachhaltigkeit und Ernährungssouveränität erschwert dies die Arbeit jener, die sich für ökologische und soziale Zukunftsfähigkeit einsetzen, noch zusätzlich.
Vielleicht sollte deshalb die Debatte über die vermeintliche ‚Regulierungswut‘ der EU differenzierter geführt werden – denn andernfalls läuft sie Gefahr, gerade jene zivilgesellschaftliche Macht von unten zu unterhöhlen, die für eine lebendige Demokratie unverzichtbar ist und eines der letzten wirksamen Mittel darstellt, um die Interessen der Allgemeinheit gegen die Macht großer Wirtschaftsakteure zu verteidigen.
Während die mächtige Lobby der Saatgut- und Pestizidkonzerne in Brüssel immer mehr an Einfluss gewinnt, hat sich längst eine dezentrale Gegenlobby gebildet: ein Netzwerk aus NGOs, Vereinen, die die Rechte der Bauern vertreten, Vereine zum Erhalt alter Sorten und zur freien Weitergabe von Saatgut sowie Saatgutfirmen, die nach strengen biologischen Richtlinien arbeiten und das Patent-System ablehnen. Diese zivilgesellschaftlichen Akteure versuchen ebenfalls, Einfluss auf die europäische Saatgutpolitik zu nehmen.
Ihre Strategien reichen von der direkten Einflussnahme auf politische Prozesse in Brüssel, über Bewusstseinsbildung bis hin zu praktischen Initiativen vor Ort, etwa durch regionale Sortenerhaltungsprogramme. Trotzt begrenzter Mittel hat die Gegenlobby in den vergangenen Jahren bedeutende Ziele erreicht – etwa die Ablehnung eines Entwurfs für eine restriktive EU-Saatgutverordnung im Jahr 2014, die alte Sorten faktisch verboten hätte. Dennoch bleibt der Druck durch die Industrie groß, und viele zivilgesellschaftlichen Akteur:innen stoßen in Brüssel auf verschlossene Türen.
In Zeiten von Klimakrise und Biodiversitätsverlust gewinnt der Kampf um freies, vielfältiges Saatgut zunehmend an Bedeutung – nicht nur für Landwirt:innen, sondern für die gesamte Gesellschaft.
In ganz Europa haben sich zahlreiche Initiativen zusammengeschlossen, um eine Agrarpolitik zu fördern, die auf Vielfalt und Gemeinwohl ausgerichtet ist. Dem Engagement dieser zivilen Akteure und ihrer Vernetzung ist es zu verdanken, dass in Europa der Einfluss der großen Konzerne um einige Jahrzehnte zurückgedrängt werden konnte.
Doch wie geht es nun weiter? Was würde geschehen, wenn die Europäische Union beschließt, die neue Gentechnik zu deregulieren, und welche Folgen hätte das für die Zukunft der Ernährungssouveränität in Europa?
